Beratungsstellen TABU & TABU Mobil wollen über FGM/C aufklären und sensibilisieren
(Kiel, 6.1.2021) Seit gut 18 Monaten leistet die Beratungsstelle TABU – Anlaufstelle Gesundheit, Frauen, Familie mit dem Schwerpunkt FGM/C, der Diakonie Altholstein Pionierarbeit auf dem Gebiet des „Female Genital Mutilation/Cuttings“ (FGM/C). Darunter versteht man die verschiedenen Formen der Beschneidung der äußeren weiblichen Genitalien. Alle elf Sekunden wird ein Mädchen weltweit rituell beschnitten. Schätzungsweise 200 Millionen Frauen sind von Genitalverstümmelung betroffen. Durch Flucht und Migration leben auch in Deutschland ungefähr 74.899 betroffene Frauen und Mädchen. Laut der aktuellen Dunkelzifferstatistik der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES sind zusätzlich circa 20.182 in Deutschland lebende Mädchen von der Beschneidung bedroht. Allein in Schleswig-Holstein sind es 531 Mädchen. „Wir wollen den Frauen und Mädchen in unserer Beratungsstelle einen sicheren Rückzugsort und Anlaufstelle bieten, damit sie über ihre Fragen, Ängste und Probleme sprechen können“, sagt Vanessa Trampe-Kieslich, Geschäftsbereichsleiterin Soziale Hilfen bei der Diakonie Altholstein.
Projektleiterin Renate Sticke und Kultur- und Sprachmittlerin Mukrima Hasso haben bisher rund 380 Kontakte in der Beratungsstelle TABU in Kiel-Gaarden oder am Telefon betreut. „Dabei spielt Vertrauen eine ganz große Rolle und es braucht Zeit, bis sich die Frauen öffnen können“, berichtet Mukrima Hasso. Die Beratungsstelle der Diakonie Altholstein ist bisher die einzige in Schleswig-Holstein. „Da die Problematik sich nicht nur auf Kiel begrenzt, bekommen wir zahlreiche Anfragen aus dem ganzen Land zu dem Thema. Das zeigt uns, wie wichtig und notwendig es ist, Fachpersonen und Institutionen im Umgang mit weiblicher Genitalbeschneidung zu sensibilisieren und zu informieren“, sagt Renate Sticke.
Der hohen Nachfrage an Fachexpertise können die Beraterinnen neben ihrem Beratungsauftrag gegenüber den Klientinnen von TABU nicht nachkommen. „Wir haben auf diese spezifischen Bedarfe reagiert und das Angebot TABU Mobil konzipiert“, erklärt Vanessa Trampe-Kieslich. Dafür hat die Diakonie Altholstein einen Antrag beim Asyl-, Migrations-, und Integrationsfonds der EU (AMIF) gestellt, um dieses Konzept umsetzen zu können. Ziel ist es, landesweit Multiplikatoren-Schulungen und Informationsveranstaltungen zum Thema FGM/C bei Trägern, Institutionen und Behörden anzubieten. „Wir freuen uns, dass wir jetzt am Anfang des Jahres einen positiven Bescheid erhalten haben und TABU Mobil nun aus EU-Mitteln finanziert und aus Landesmitteln kofinanziert wird“, ergänzt sie.
Aufmerksam machen wollen die Beraterinnen zum Beispiel auf das Thema Ferienbeschneidung. „Unser Anliegen ist es deshalb auch Fachpersonal an Schulen oder Kindertagesstätten zu sensibilisieren“, betont Renate Sticke. 20.182 Mädchen, die in Deutschland leben, könnten Opfer vom FGM/C werden. Gerade in den Sommermonaten besteht die Gefahr, dass Familien mit ihren Töchtern einen Heimaturlaub planen, wo diese beschnitten werden sollen. Daher ist es wichtig, genau hier mit dem Beratungsangebot von TABU Mobil anzusetzen. „Wir sensibilisieren und informieren unter anderem Lehrkräfte und Erzieher*innen in ganz Schleswig-Holstein, worauf zu achten ist und wie man sich verhalten sollte. So könnte eine Beschneidung geplant sein, wenn ein junges Mädchen berichtet, dass ihre Familie zu Verwandten fährt und dort ein großes Fest geplant sei“, erzählt Renate Sticke von einem Beispiel.
Verstärkung im Team
Unterstützung bekommt Renate Sticke nun seit Januar von Angela Hartmann. Die Diplom-Sozialpädagogin verfügt über langjährige Erfahrung im Bereich sexualisierte Gewalt gegen Frauen. „Mir ist es wichtig, das Thema FGM/C nicht isoliert zu betrachten, auch wenn wir den Fokus darauf gelegt haben, sondern es im Kontext der jeweiligen Lebenssituation der betroffenen Frauen zu betrachten. Wir möchten das Thema aus dem Tabu-Bereich herausholen und Fachkräfte und Institutionen darin unterstützen, einen kultursensiblen Umgang mit den betroffenen Frauen zu finden“, betont Angela Hartmann.
Neben der Schulung von Fachpersonal ist es ein weiteres Ziel von TABU Mobil auch dort in Schleswig-Holstein Beratung anzubieten, wo bislang keine entsprechende Infrastruktur besteht. Hier wird es ein ganz enges und vertrauensvolles Miteinander mit den unterschiedlichen Beratungsstellen im Land geben. Über die bisherige Zusammenarbeit zieht Renate Sticke ein positives Fazit: „In der Kontaktaufnahme und Vernetzung mit anderen Fachpersonen und Einrichtungen in ganz Schleswig-Holstein wurde eine wichtige Grundlage für TABU Mobil geschaffen.“
Beispielhaft ist eine gute Zusammenarbeit mit einer Frauenschutzeinrichtung gelungen. Dort konnte das Thema FGM/C sensibel angesprochen und die Beratungsstelle TABU vorgestellt werden. „So ist der Kontakt zu einer Frau zustande gekommen, die nach mehreren persönlichen und intensiven Gesprächen den Wunsch einer Rekonstruktion ihrer Genitalien formulierte“, erzählt Renate Sticke. Im vergangenen Jahr konnte trotz der Pandemie in Berlin das erste Arztgespräch stattfinden. Ein Rekonstruktionstermin soll noch in diesem Jahr folgen. „Wir als vertraute Ansprechpartnerinnen stehen ihr in diesem Prozess kontinuierlich zur Seite. Gleichzeitig profitieren wir von diesem Synergieeffekt, denn die Klientin ist wiederum Multiplikatorin, erzählt ihre Geschichte und erreicht dadurch optimal ihre eigene Community“, berichtet die Expertin.
Die Anlaufstelle TABU ist die einzige offizielle Beratungsstelle in Schleswig-Holstein für diese Frauen. Aktuell wird die Beratungsstelle über Gelder von Aktion Mensch und der Diakonie Schleswig-Holstein Stiftung finanziert. Daher sind Spenden für die Arbeit von TABU wichtig. Wer die Arbeit von Renate Sticke und ihrem Team unterstützen möchte, kann unter Angabe des Verwendungszwecks „TABU 2576“ bei der Evangelischen Bank (IBAN DE79 5206 0410 2206 4848 40, BIC GENODEF1EK1) spenden. Online kann dies über Betterplace oder auf der Spendenseite der Diakonie Altholstein geschehen.
Durch die zunehmende Migration wird die Aufklärung über FGM/C immer wichtiger. „Die Genitalverstümmelung stellt eine Verletzung des Menschenrechtes auf körperliche Unversehrtheit dar. Hier ein Zeichen zu setzen und einerseits betroffene Frauen und Mädchen zu stärken und zu schützen, andererseits aber auch die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, ist uns ein wesentliches Anliegen, das wir auch langfristig im Blick behalten müssen,“ sagt Vanessa Trampe-Kieslich.
TABU – Anlaufstelle Gesundheit, Frauen, Familie mit Schwerpunkt FGM/C an der Johannesstraße 45 bietet dienstags von 13 bis 14 Uhr und donnerstags von 9 bis 10 Uhr eine offene telefonische Beratung an. Weitere Infos gibt es per E-Mail unter tabu@diakonie-altholstein.de oder telefonisch unter 0431/26093119.
BU: Mukrima Hasso, Projektassistenz, Kultur- und Sprachmittlerin TABU, Renate Sticke, Projektleiterin Beratungsstelle TABU, Angela Hartmann, Beraterin TABU Mobil und Vanessa Trampe-Kieslich, Geschäftsbereichsleiterin Soziale Hilfen (v.li.) sprachen über die Projekte TABU und TABU Mobil. | Foto: Baier / Diakonie Altholstein